Am Heiligabend wirbelten Schneemassen vom Himmel. Bilderbuchkulisse pur. Salz und die Berliner Luft verwandelten den Zuckerguss über die Feiertage in eine gräuliche Eiswüste.
27. Dezember, 11.00 Uhr
Heute, am Eröffnungstag des
26. Chaos Communication Congresses ,
war immer noch null Aussicht auf Besserung.
Ein eisiger Ostwind fegte über die Stadt. Gefühlte 10° minus.
Im Berliner Congress Center, dem bcc, war es warm. Carlo Gerber saß
im Kuppelsaal und lauschte dem Eröffnungsvortrag. Der Redner hieß
sein Publikum im Kosmos der hackenden Ethiker willkommen:
»›Here be dragons‹ ist der Leitspruch
unseres diesjährigen Kongresses.
Kennt ihn jemand von euch?«, der Redner machte eine rhetorische Pause
und schaute sich im Saal um, bevor er weitersprach.
»Kartographen hatten auf alten See- und Landkarten unbekannte Gebiete mit
›Achtung Drachen‹ markiert.
Sie verzierten die weißen Stellen mit geschwungenen Buchstaben
und illustrierten den Spruch mit Ungeheuern und Schatztruhen,
zugleich warnend und doch so verheißungsvoll.
In den Atlanten des 21. Jahrhunderts gibt es keine weißen Flecken mehr.
Dafür sind sie im Cyberspace zu finden, wir nennen sie ›blind spots‹.
Die Abenteurer der Echtzeit sind in der virtuellen Welt unterwegs,
stoßen dort auf kryptische Ungeheuer und verschlüsselte Schätze.
Heute wie damals stellen sich jedoch die gleichen Fragen:
Wohin geht unsere Fahrt? Was werden wir entdecken?«
Der Redner räusperte sich und schleuderte in das Meer der lauschenden
Individualisten die Frage aller Fragen:
»Wird unsere Reise in einem Überwachungsstaat enden oder
in ein Paradies der Meinungsfreiheit führen?«
Carlo lehnte sich zurück und kreuzte die Arme vor der Brust,
die Rede traf den Nerv. Sein Trip nach Berlin hatte den Zweck,
eine Bande virtueller Ungeheuer dingfest zu machen.
Er und seine Kollegen, die EuroSec, waren ihnen seit über einem
halben Jahr auf der Spur. Die Hacker waren schneller, intelligenter
und gewievter als er und seine Crew und ihnen immer einen Tick voraus.
Sie waren so brillant, sie enterten ohne Probleme Bereiche,
die durch unüberwindliche Security Walls geschützt sind.
Und die Bande machte vor nichts halt, sie hackte militärische
Geheimnisse, regierungsinterne Daten und bestgehütetes Wirtschaftswissen.
Carlo schaute sich im Saal um, lauter hochkarätige Spezialisten aus
der Computerwelt! Der Kopf der Bande war mit ziemlicher Sicherheit hier,
mitten in diesem Technologiefreakgewimmel. Jeder könnte es sein, oder?
Der Redner kam zum Ende, tosender Applaus setzte ein. Carlo erhob sich und ging hinunter zur 2. Ebene. In der Cafeteria holte er sich ein Mineralwasser. Er lehnte sich an den Tresen und trank einen Schluck. Das Event war ausverkauft. Wache, erwartungsvolle Gesichter. Sympatische Menschen. Er war kein Draufgänger à la James Bond, er war Informatiker, zuständig für Datensicherheit. Spionieren war nicht sein Ding. Mit einem Zug trank er das Wasser aus. Im Moment war es am sinnvollsten hochzugehen, die Ohren offen zu halten und dem nächsten Vortrag zu lauschen. Das Thema war inspirierend.
Auf der Wendeltreppe kam ihm Britta, seine Kollegin und Begleiterin beim Kongress, entgegen. Sie musterte jeden verstohlen, bis ihr Blick an Carlo hängenblieb. Verschwörerisch nickte sie ihm zu. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und die Ärmel ihres dunklen Sweatshirts, mit dem pinken Aufdruck: ›Realität ist da, wo der Pizzabote herkommt‹, waren nachlässig hochgerollt.
»Da bist du ja, ich hab dich gesucht! Ich hab was. Brandheiß. Geh dem nach!«, flüsterte sie und steckte ihm ein Blatt Papier zu. Er warf einen kurzen Blick darauf und faltete es schnell wieder zusammen.
»Kaimaninseln?«, fragte er.
»Ja. Sei vorsichtig, bleib nicht hier. Geh in die Pension oder sonstwo hin!«
»Britta, bist du sicher?« Seine Stimme klang eine Spur zu geringschätzig,
er biss sich schuldbewusst auf die Unterlippe.
Britta strich sich die Haarsträhne energisch hinters Ohr und ihre
türkisen Augen funkelten ihn angriffslustig an.
»Der Mann ist ein Crack, saß wegen eines politisch motivierten Hacks ein,
seit seiner Freilassung ist er abgetaucht.«
Carlo las noch einmal den Namen ›Ziran alias Jesper Hallbert‹. Er schüttelte seinen dunklen Lockenkopf. »Hab noch nie was von dem Typ gehört.«
»Eben!«, raunte Britta.
»Gut, ich komm erst zurück, wenn ich etwas herausgefunden habe«, versprach er und machte sich davon.